Um die Jahrhundertwende ereignete sich viel in Hamburg.
Der 30 Jahre alte Fotograf Johann Hamann eröffnet 1889 ein Fotoatelier in der Neustädter Straße. Die Stadt und der Hafen sind seine bevorzugten Bildmotive.
Um 1900 im Zuge der Reform der Kriminalpolizei wird die Fotografie von Tatorten und Mordopfern eingeführt.
Am 25. Mai 1881 war Hamburg dem deutschen Zollgebiet beigetreten. Die Stadt war bis dahin für das neue Deutsche Reich Ausland geblieben, weil sie den freien Handel und Güterumschlag sichern
wollte. Nun, da die Reichsregierung die aufstrebende deutsche Industrie durch Zollschranken gegen ausländische Konkurrenz schützen und dem Reich eine neue Einnahmequelle erschließen wollte,
sollte dieser besondere Zustand beendet werden. Senat, Handelskammer und starke Gruppen des gewerblichen Mittelstandes sahen die Lebensinteressen des Gemeinwesens bedroht und widersetzten sich
dem Kanzler. Dieser reagierte sofort mit Kampfmaßnahmen. Als der Senat die Schwäche der eigenen Position erkannte, lenkte er ein und nahm Verhandlungen auf. Nach intensivem Ringen verpflichtete
sich Hamburg zum Beitritt zum deutschen Zollverband. Als Ausgleich der früheren Hamburger Zollfreiheit bekam die Stadt einen 16 km2 großen Freihafen. Da dieses Freihafengebiet von der übrigen
Stadt abgegrenzt war, mussten alle Bewohner dieses Bezirks in neue Wohngebiete umgesiedelt werden.
Der Bau des Freihafens bei wachsender Wirtschaftskraft Deutschlands, die Verlagerung und Modernisierung der Industrie und Gewerbebetriebe und die Umquartierung von rund 20.000 Menschen in neue
Wohnviertel veränderten die Lebens - und Arbeitsverhältnisse des Gemeinwesens tiefgreifend.
Mit dem Zollanschluss begann ein außerordentlicher Konjunkturaufschwung. Der Güterumschlag nahm so rasch zu, dass das Freihafengebiet schrittweise erweitert werden musste. Und dieses Wachstum kam
auch den zahlreichen mittleren und kleinen Zulieferbetrieben und Handelsfirmen zugute. Auch profitierten in der Handelsmetropole Industrie und Handwerk vom Aufschwung. 1880 waren in den rund 600
Betrieben etwa 18.000 Arbeiter beschäftigt, kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges verdienten sich in den 5.000 Unternehmen mehr als 115.000 Arbeiter ihren Lebensunterhalt. Obwohl zu Beginn des
20. Jahrhunderts 48% der Arbeitnehmer in der Hansestadt in Industrie und Handwerk beschäftigt waren, bestimmten den politischen und wirtschaftlichen Kurs der Stadt ausschließlich die
Repräsentanten des Handels und der Schifffahrt.
Das rasche Wirtschaftswachstum veränderte auch das gesellschaftliche Leben grundsätzlich. Handel und Verkehr und die aufstrebende Industrie saugten den Bevölkerungsüberschuss aus dem näheren und
weiteren Umgebung der Stadt regelrecht auf. Hatte Hamburg beim Eintritt in den deutschen Staatsverband knapp 300.000 Einwohner gehabt, so waren es um die Jahrhundertwende bereits 750.000, vor
Beginn des Ersten Weltkriegs war die Millionengrenze überschritten.
Die neuen Bewohner - um die Jahrhundertwende war die Hälfte von ihnen schon nicht mehr in der Stadt geboren - fühlten sich in keiner Tradition verpflichtet. Aber auch viele Hamburger, die aus dem
Freihafengebiet in die neuen Vorstädte und Stadtteile umgezogen waren, hatten mit den sozialen Kontakten auch vertraute Lebensgewohnheiten aufgegeben. Die Auflösung gewachsener städtischer
Gemeinschaften vollzog sich auch dadurch, dass immer mehr Menschen die Innenstadt verlassen mussten, weil dort Platz für Handelshäuser, Banken, Versicherungen und Verwaltungsgebäude gebraucht
wurden. Letztendlich hatte der Ausbau der Verkehrswege viele Hamburger aus der gewohnten Umgebung gerissen, sodass sich ihre Lebensqualität dramatisch verschlechterte.
Hier zeigten sich nun die Schattenseiten des Wachstums. Der Senat war so stark damit beschäftigt, die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für das Wirtschaftswachstum zu schaffen, dass er die
soziale Frage nicht bedachte. Da es an einer Stadtplanung fehlte, wucherten Vororte, die bis zur Reichsgründung einige 100 oder 1.000 Einwohner gezählt hatten, in zwei Jahrzehnten zu Wohnbezirken
mit 100.000 und mehr Menschen empor. Auf engem Raum zusammengedrängt, unter ungenügenden hygienischen Bedingungen und schlechten Verkehrsverhältnissen mussten dort Menschen leben, die durch ihr
Können und ihre Arbeit zur Mehrung des Wohlstandes der Stadt beitrugen. Noch schlechter sah es in den alten Wohnbezirken der Innenstadt aus. Häuser und Wohnungen waren hoffnungslos überlegt, oft
fehlten primitiven sanitären Einrichtungen.
Hier wütete 1892 die Cholera, an der ca. 17.000 Menschen erkrankten und mehr als 8.600 starben. Diese Katastrophe rüttelten Senat und Bürgerschaft auf. Kurzfristig wurde die Trinkwasserversorgung
verbessert, langfristig ein Plan zur Sanierung gefährdeter Innenstadtviertel entworfen. Spürbare Fortschritte bei der Verbesserung der Wohnverhältnisse blieben aber aus, da sich die
Grundeigentümer mit ihren Interessen durchsetzen.
Dass die durch rasche Wirtschaftswachstum entstandenen sozialen Nöte gemildert werden konnten und das geistig kulturelle Leben der Stadt nicht ganz dahinsiechte, war der Aktivität und Dynamik
einflussreicher bürgerlicher Kreise zu danken. Sie fühlte sich dem Gemeinwesen verpflichtet. Die zahlreichen Bürgervereine, die sich zwar alle scharf von der Unterschicht abgrenzten, leisteten
aber in ihren Stadtteilen viel zur Förderung von Kindergärten, zur Versorgung der Schulen und zur Beseitigung von Umweltschäden.
Zum Motor vieler dieser Neuentwicklungen wurde die Patriotische Gesellschaft. Sie schuf u.a. die Voraussetzung für die Errichtung des Museums für Kunst und Gewerbe, und auch die Kunsthalle
erlebte durch sie einen großen Aufschwung. Die wurde in diesen Zeiten von Alfred Lichtwark geleitet und er führte sie zu internationaler Bedeutung. Lichtwark forderte aktive künstlerische
Betätigung der Bevölkerung und - wie wir noch später sehen werden - förderte er sehr stark die Amateurfotografie.
Da das Bürgertum seine Verantwortung für das Allgemeinwohl unmittelbar wahrnahm, hat diese sich politisch kaum organisiert. Die politisch und wirtschaftlich führenden Kreise der Stadt vertraten
ihre Interessen direkt über die Handelskammer und den Senat im Reichsrat.
Im Gegensatz dazu mussten die Arbeiter, die kein Bürgerrecht besaßen und in der Stadt nicht wählen durften, sich solidarisch verhalten und zusammenschließen. Da die Hansestadt auch den Arbeitern
gute Ausbildungsmöglichkeiten und viele Formen der Kommunikation bot, entstand hier schon vor der Reichsgründung eine respektable Gewerkschaftsorganisation. Nach 1890 wurde Hamburg zum Sitz des
Landesgremiums. Sehr früh formierte sich die SPD in der Stadt. Ferdinand Lasalle fand unter den gut unterrichteten Arbeitern einen großen Anhang. Für die meisten Arbeiter Deutschlands war Hamburg
lange Zeit ihre heimliche Hauptstadt.
Mit dem Wirtschaftsaufschwung und dem dadurch ausgelösten Strukturwandel in der Gesellschaft wurde eine Anpassung der alten Landesverfassung an neue Gegebenheiten erforderlich! Dieses erfolgte
aber nicht! Mit Recht erklärten die vereinigten Liberalen 1912: "Die Millionenstadt kann nicht wie die mittelalterliche Reichsstadt verwaltet werden." Damit war das Kernproblem getroffen.
Die politische Ordnung trug weder den wirtschaftlichen Erfordernissen noch der gesellschaftlichen Dynamik in der Stadt Rechnung. Die 18 Mitglieder des Senats wurden auf Lebenszeit gewählt, manche
von ihnen konnten im hohen Alter die Entwicklung der Stadt nicht mehr nachvollziehen. Da der Senat das Patronat über die evangelisch-lutherische Kirche innehatte, konnten Katholiken und
Angehörige anderer Glaubensgemeinschaften wie Juden niemals in den Senat gewählt werden, auch wenn sie sich noch so verdient um die Stadt gemacht hatten.
Die Verwaltung war unzureichend entwickelt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts herrsche ein ausgesprochener Instanzenwirrwarr. Es gab 50 Deputationen, die die Stadtgeschäfte leiteten. An der Spitze
der einzelnen Behörden standen 2-3 Senatoren, die nicht immer reibungslos zusammenarbeiteten.
Noch entscheidender für die Abkehr vom alten Verfassungssystem war aber der Bewusstseinswandel bei den Menschen. Die Unterschicht war sich ihrer Leistung bewusst, sie nahm deshalb nicht länger
hin, von jeder Mitsprache ausgeschlossen und zurückgesetzt zu werden. Auch religiöse Minderheiten fanden sich damit nicht ab, als Bürger zweiter Klasse behandelt zu werden!